Mein Vater konnte sehr lebendig vorlesen. Wenn er dabei seine Stimme verstellte und mit Flüstern oder lautem Gepolter für Gänsehaut sorgte, vergaß ich augenblicklich die Welt um mich herum und tauchte tief in die Geschichte ein. Ich bekam nie genug und er musste, kaum, dass er mit einem Buch ans Ende gekommen war, wieder von vorne anfangen. Immer wieder reiste ich mit dem kleinen Rösslein Hü um die Welt und schrie gemeinsam mit Ronja Räubertochter aus voller Kehle, wenn der Frühling nahte. Es muss eine große Erleichterung für meinen Vater gewesen sein, als ich endlich selber lesen konnte und kaum noch die Augen von den Buchstaben lösen wollte.
In der Welt der Erwachsenen fühlte ich mich klein und unbedeutend. Hinter den Hosenbeinen meiner Eltern stand ich versteckt, beobachtete schüchtern die Menschen und versuchte ihr Verhalten zu ergründen. Wenn ich aber auf dem Bett lag, wurde meine Zimmerdecke zur Kinoleinwand meiner Phantasie und ich träumte mich über Stunden hinweg in heldenhafte Geschichten hinein.
Ich begann mit der Zeit kleine Gedichte zu schreiben, Goethe und Schiller in langen Balladen zweifelhaft zu imitieren, Naturbeobachtungen zu schildern und Kurzgeschichten zu verfassen. Aber Schreiben als Beruf? Von Träumereien kann man keine Miete bezahlen, deshalb verschob ich meine Leidenschaft halb im Scherz auf meine Zeit als Rentnerin. Begonnene Manuskripte und halbfertige Ideen wurden in Schubladen verbannt.
Nach dem persönlich bereichernden aber beruflich nutzlosen Studium der Linguistik, Kunstgeschichte und Religionswissenschaft schrieb ich Beiträge fürs Radio. Ein halber Tag Aufwand, eine halbe Minute Sendezeit, dann war mein Text schon wieder vergessen. Noch kurzlebiger war das Werbetexten im Online-Handel: Tag für Tag erfand ich sinnfreie Floskeln, um Kunden zu gewinnen.
Warum musste ich eigentlich auf meine Pensionierung warten, wenn ich doch genau wusste, was ich wollte? Anstatt immer nur davon zu träumen und zu reden, schrieb ich eines Tages drauflos und genoss nach langer Zeit wieder das Gefühl, dem Gestalterischen in mir freien Lauf lassen zu können. Die Berufung zum Beruf machen zu können, bedeutet für mich das wahre Glück.
Carolina Baum (*1983) lebt in Berlin und taucht noch immer gerne glasigen Blickes in ein Nebelmeer aus Gedankenfetzen. Während ihr Mann dann rücksichtsvoll auf Zehenspitzen über den Parkettboden knarzt, sorgen die beiden kleinen Kinder der Autorin meist unverzüglich dafür, dass sie unsanft aus ihren Traumwelten gerissen wird, um sich wieder den Banalitäten des Alltags zu widmen.